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Die weiße Lilie

Eine Frau mittleren Alters
Arbeitete als Kellnerin.
Sie schuftete hart,
War allein
Mit einem Kind
Und ihrer alten Mutter.

Sie kümmerte sich
Um ihre Mutter
Und um das Kind
Tag und Nacht.

Die Arbeit im Haushalt
War mühsam.
Die Felder
Bestellte sie allein.
Den Wein
Kelterte sie selbst.

Keiner war da.

Ihr Mann war weg
Und überdies
War sie sehr schön.

Das Geld war knapp,
Sie hatte viel zu rechnen.
Ein Glück,
Dass sie darin geschickt war.

Ihr Mann zahlte
Nichts für sie,
Nichts für das Kind.

Sie wollte auch
Nicht vor Gericht deswegen.

Sie wurde viel umworben
Von vielen reichen Edelmännern,
Doch lehnte alles ab.

Sie kümmerte sich
Um Kind, Mutter, Haushalt,
Felder, Wein,
Vieh
Und ihren schönen Garten,
Der ihr heilig war.

Sie liebte ihre Blumen.

Nicht selten wuchsen welche
Einfach so,
Keiner pflanzte sie ihr ein.

Man klaute gerne
Ihre Blumen,
Wenn sie gerade
Im Feld
Oder
Beim Kellnern war.

Die Blumen
Waren
Allen
Dieben
Viel zu schön.

Einmal wischte sie
Beim Kellnern
Den Tresen
Mit ihrer zarten,
Weichen,
Weißen Hand.

Da kam eine andere Frau
Und fragte sie,
Woher denn diese weiße Lilie komme,
Die so schön
Und schuldlos
An jenem langen Tresen stehe.

"Aus meinem Garten.
Sie wachsen groß,
Die weißen Lilien,
In meinem Garten."

"So",
Sagte die andere Frau
Etwas schnippisch:
"Verkaufen Sie mir die hier?"

"Nein",
Sagte die Frau,
Der die Lilie gehörte
Zu der anderen,
Schnippischen Frau:
"Nehmen Sie sie so!"

Und heute sitzt
Die Frau,
Die ihre weiße Lilie verschenkte
Vor mir,
Hundert Jahre alt.

Sie fragt mich:
"War es richtig,
Kein Geld
Für die weiße Lilie
Zu fordern?"

Ich sage
Unentschlossen:
"Ja".
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